Dienstag, 23. Oktober 2012


die nachtkritik

banditen001 280 joerglandsberg h"Die Banditen" am Theater Bremen lugen aus dem Loch. © Jörg LandsbergBremen, 22. Oktober 2012

Wütende wirbelnde Lust

Whooms! Es kracht gewaltig im Bremer Theater, als sich der Vorhang hebt. Ein Anschlag? Jawohl! Ein anarchisches Spaß-Attentat auf den verschnarchten Biedersinn hiesiger Jacques Offenbach-Rezeption. Herbert Fritsch ist in Bremen gelandet und hat Die Banditen inszeniert. Ein Hör- und Sehabenteuer auf der ganzen Linie. Wolfgang Behrens hat sich mit einiger Begeisterung ins Stahlbad der Lustbarkeiten gestürzt.

Essen, 22. Oktober 2012. Joseph Roths Roman Hiob nimmt eine biblische Geschichte auf. Wolfgang Engel hat den Stoff am Schauspiel Essen inszeniert, die Premiere sah Sarah Heppekausen.

Oben, auf dem Dachboden sitzt der alte Theaterdirektor und unten in der Wohnung kämpfen die Frauen um ein bissel Glück und Bedeutung: Die Ratten von Gerhart Hauptmann. In Köln hat Karin Henkel das naturalistische Drama inszeniert. Die Premiere sah Andreas Wilink.

Nicht nur in Köln, auch am Theater Osnabrück haben sich Hauptmanns Ratten eingenistet. Dort lässt Annette Pullen das Sozialdrama in einem wunderlichen Irrgarten aus bunten Klamotten spielen. Tim Schomacker war dabei.

"Friede den Hütten, Krieg den Palästen!" Georg Büchners berühmtes Diktum hat die Theater schon immer angeregt, sich mit kämpferischer Rhetorik in die Brust zu werfen. Für sein Projekt Büchner spannt Falk Richter die Texte des verzweifelten Revolutionärs mit eigenen zusammen. Zu welchem Ende? Das beschreibt Martin Krumbholz.

Auf der Bühne ist Fabian Hinrichs gerne als Tarzan unterwegs, mit bloßem Oberkörper, am Seil. Dabei ventiliert er üblicherweise Antworten auf letzte Fragen. Die Fragen sind unsere Fragen, die Antworten meist von René Pollesch. Für Die Zeit schlägt dich tot hat Hinrichs ohne Pollesch gearbeitet. Wie es ausging, berichtet Georg Kasch.

Manchmal kommt Schnitzlers Reigen, einst ein Skandal, heute doch recht harmlos daher. Damit will der junge Regisseur Patrick Steinwidder am Residenztheater nichts zu tun haben: Sex ist Schock, ist Gewalt, ist jedenfalls kein Spaß. Wie weit er damit kam, das weiß Sabine Leucht.

Das Deutsche Nationaltheater hatte in letzter Minute kalte Füße bekommen und sich von Milo Raus Projekt Breiviks Erklärung distanziert. So fand die Premiere gestern in einem Kino statt. "Ich weiß nicht, warum sich das Theater dem intellektuellen Diskurs verweigert. Was wir zeigen wollen, ist ja gerade, dass der Inhalt des Textes mittlerweile europäischer Common Sense ist," sagte Rau zu Beginn. Mehr von Christian Baron.

Ödipus sieht wie ein Penner aus, der sich vom Hauptbahnhof gegenüber auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses verirrte. Dort Alice Buddeberg die Tragödie von Sophokles inszeniert. Mounia Meiborg berichtet.

Alles geht ganz schnell: Nur gut 60 Minuten dauert Enrico Lübbes Inszenierung von Johann Wolfgang Goethes Urfaust am Volkstheater. Was der künftige Leipziger Intendant in dieser Zeit erzählt, weiß Kai Krösche.

Ein alter Mann blickt auf sein Leben in Noah Haidles Saturn kehrt zurück. Jean-Claude Berutti hat die deutsche Erstaufführung des Kammerspiels in Nürnberg inszeniert. Elisabeth Michelbach war dabei.

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presseschau

23. Oktober 2012

Wieviel Spitzenkünstler verdienen

Über gut gefüllte Portemonnaies und den Wert künstlerischer Hochleistungen berichtete am Sonntag das ARD-Kulturmagazin Titel Thesen Temperamente. Es fragte: Wie viel kann und sollte Kultur kosten?

19. Oktober 2012. Die Frankfuter Rundschau macht sich Gedanken über die Blackfacing-Konferenz. Währenddessen holt der Guardian noch einmal den Fall von Bruce Norris hoch, der im vergangenen Jahr dem Deutschen Theater Aufführungsrechte entzog, als dort eine schwarze Figur mit einer weißen Darstellerin besetzt werden sollte. Norris hat mittleweile in einem Offenen Brief zum Boykott von Blackface-Produktionen aufgerufen. Mehr hier (FR) und hier (Guardian).

19. Oktober 2012: Die Süddeutsche Zeitung gratuliert heute zu 30 Jahren Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und hat das Ziel des dortigen Instituts ausgemacht: irritieren, verunsischern! Hier entlang!

Erst im Juni wurde gemeldet, dass die Rostocker Bürgerschaft für einen Theaterneubau gestimmt hat – zwar hatte der neu gewählte Oberbürgermeister das Volkstheater zeitgleich zum Sparen aufgefordert, doch es bestand Grund zur Hoffnung. Die Hoffnung wie auch der Theaterneubau sind ganz weit weggerückt und haben einer neuen Krise Platz gemacht, berichtet Thomas Niebuhr in der Ostseezeitung vom 11. Oktober – eine Zusammenfassung seines Beitrags reichen wir hiermit nach.

Seit einem Jahr arbeitet das griechische Theaterkollektiv Mavili in dem von ihm besetzten Theater Embros in Athen. Sehr erfolgreich, politisch und bürgernah, wie die taz berichtet. Doch jetzt droht den Theatermachern die Räumung. Mehr dazu hier.

Nach der NZZ berichtet heute auch die Süddeutsche Zeitung über die Ludwigsburger Konferenz zur Zukunft des Theaters. Während die Tagung bei der NZZ vor allem Fragen nach dem Verhältnis von Theater und Publikum aufwarf, konzentriert sich die SZ auf Ausbildungsfragen. Hier die erweiterte Zusammenfassung.

Äußerst gelungen, anregend und kontrovers findet die Süddeutsche Zeitung die Foreign Affairs, das neu konzipierte internationale Theaterfestival der Berliner Festspiele. Hier unsere Zusammenfassung.

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debatte

unschuld1 280klein arno declair hBlackfacing in Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers "Unschuld", 2011 im DT Berlin.  © Arno Declair

Berlin, 18. Oktober 2012

Durchs Goldfischglas gesehen

Die Blackfacing-Debatte erhitzt die Gemüter. Wo auch immer sie weitergeführt wird, geht es hoch her. Vorgestern hat die Organisation Bühnenwatch in Berlin Wissenschaftler und Aktivisten zu einem weiteren Symposium zusammengerufen. Die Veranstaltung Blackface, Whiteness and the Power of Definition in German Contemporary Theatre verlief ungewohnt harmonisch – warum und was dort (nicht) diskutiert wurde, weiß Nikolaus Stenitzer.

Schwarzafrikaner in Schaugehege stecken? Was bitte soll das? Brett Baileys Kolonialismus-Recherche "Exhibit B" hat beim Berliner Festival "Foreign Affairs" kräftigen Gegenwind geerntet. Jetzt stellte sich Bailey der Debatte auf dem Symposium "Stages of Colonialism / Stages of Discomfort". Elena Philipp berichtet.

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porträt & profil

wendland 280 fynn schmidt u"Freie Republik Wendland" in Hannover
© Fynn Schmid

Niedersachsen, 17. Oktober 2012

Punktsiege auf dem Land

Niedersachsen – gefühlt sind das weite Ebenen mit Kühen, ein bisschen Wattenmeer und Castor-Proteste im Wendland. Und – den Nachtkritiken nach zu urteilen – lebendiges Theater. Nach dem krisengebeutelten Nord-Nordost führt uns der Schwerpunkt dieser Saison ins Gebiet zwischen Göttingen und Wilhelmshaven, Hildesheim und Lüneburg. André Mumot hat für uns einen ersten Überblick riskiert.

Weitere Künstlerporträts, Festival-, Ausstellungsberichte und Reden

 

kritikenrundschau

Jubel, Trubel bei den Kritikern, zähneknirschendes Gelächter selbst bei den Bedenkenträgern, bei uns kein Knirschen, nur Freude.

Keine guten Kritiken für Wolfgang Engel, zu kühl, zu distanziert. Wir fanden die Inszenierung leer.

Bei gelegentlichen Einschränkungen begeistert ist die Kritik über Henkels Inszenierung aus dem Geist des Kostümfundus, noch mehr über ihre Schauspieler. Wir sangen.

Freundlich die Reaktionen der lokalen Kritiker_in. Auch wir nahmen die Inszenierung freundlich auf.

Unklar ist die Meinungslage bei den KritikerInnen zu Falk Richters neuem Abend. Wir sahen Glanz und Elend.

Den einen Kritiker treibt Fabian Hinrichs in die Beschreibungseuphorie, der andere sagts lieber lakonisch. Berührt sind sie alle. Nicht immer angenehm allerdings. Wir grundsätzlich schon.

Alle finden Patrick Steinwidders Inszenierung blöde, unsäglich plakativ, nervend, daneben. Wir auch.

Die Kritik ist gespalten wie selten. Einer hält die Lesung des Textes für "pervers", die anderen glauben, man müsse sich mit den Haltungen, die dort hervor träten, auseinandersetzen. Wir argumentieren ähnlich.

Die lokalen Kritiker finden den Abend entweder einleuchtend oder ratlos, uns war das "Wozu?" nicht ganz klar.

Die Wiener Kritik ist vollkommen euphorisiert von diesem kühlen Meisterwerk, mit dem sich das Volkstheater aus Kritikersicht in die vorderste Reihe sämtlicher Wiener Theater katapultiert hat. Unsere Euphorie blieb gedämpft.

Zustimmung, sogar Hymnen von der Nürnberger Kritik, Vorbehalte bei uns.

Das sei schon nicht ohne Witz, was Arnarsson da mache, befinden die Zeitungsstimmen vom Rhein. Aber so viel wie wir mochten sie dem Abend dann doch nicht abgewinnen.

Verwirrt und überfordert zeigt sich eine erste lokale Stimme von der Sprödigkeit dieses Abends. Wir waren gerade davon angetan.

Zum Denken angeregt fühlte sich eine Kritikerin – wie auch wir, die wir die Produktion bereits zu ihrer Premiere beim Steirischen Herbst 2011 sahen.

Eigentlich wie immer bei Mitchell, aber doch ganz groß, meint die Mehrzahl der Kritiker vor Ort – heute pflichten zwei weitere überregionale Stimmen dem bei. Auch wir ließen uns bannen.

Mehr als vier Stunden dauert dieser Fallada-Abend am Hamburger Thalia-Theater, aber das stört die Printkritiker – auch den heute neu hinzugekommenen, der sich zwischen Angst und Liebe hin- und hergerissen fühlte – genauso wenig wie uns.

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bücher

coverschlingensiefautobioklein8. Oktober 2012

Kein Eis, kein Mond

Was wurde er nicht angegiftet, verspottet, ausgelacht. Und kaum war er tot, wandelten sich die einstigen Angifter in Anhimmler. So geschehen mit dem großen Künstler Christoph Schlingensief. Vor zwei Jahren ist er gestorben, heute erscheint seine Autobiographie Ich weiß, ich war's. Ein ungewöhnliches Buch, vor allem ungewöhnlich anregend. Und aufregend natürlich auch. Christian Rakow hat es gelesen.

Luc Bondy ist unter die Lyriker gegangen! Als Regisseur hat er sich große Ehren erarbeitet, als Romancier schon vor drei Jahren erprobt. Aber Lyriker? Geht das gut? Und Yasmina Reza, die französische Schauspielerin und supererfolgreiche Stückeverfasserin gibt es jetzt als Autorin von Miniprosa zu entdecken. Da hat man ihn, den flexiblen Menschen. Den gibt es zuhauf auch auf den Bühnen zu sehen. Jetzt wurde er gar zum Gegenstand der Wissenschaft. Mehr dazu von Dirk Pilz, Simone Kaempf und Christian Baron.

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video

Festivalleiterin Frie Leysen im Videointerview
© Matthias Weigel

 Berlin, 27. September 2012

Europa reicht nicht

Heute abend eröffnen die Berliner Festspiele ihre "Foreign Affairs". Vorher hat Matthias Weigel mit Frie Leysen gesprochen – künstlerische Leiterin des Festivals und designierte Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen. Über den internationalen Fokus ihrer Festivalprogramme, den der Regisseur Alvis Hermanis ihr erst neulich zum Vorwurf gemacht hat, über ihre Arbeitsweise und über ihre Ängste und Hoffnungen fürs deutsche Stadttheatersystem. Zum Videointerview.

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