Manien und Manierismen (I)

Über den notorischen Außenseiter Gerd-Peter Eigner

Gerd-Peter Eigner © Leopold Federmair

Gerd-Peter Eigner © Leopold Federmair

Ein volkstümliches Diktum besagt, daß zum Streiten zwei gehören. Es dient oft als bequemer Vorwand, um sich die genauere Prüfung eines Konflikts und, in der Folge, die Parteinahme zu ersparen. Zunächst aber kommt man um die Feststellung der Trivialität nicht herum, will man die Mechanismen eines Streits begreifen. Um ihr Spiel spielen zu können, sind beide Seiten aufeinander angewiesen: so ist das bei Kin­dern und Erwachsenen, zwischen Kritikern und Kon­servativen, zwischen der Gesellschaft und ihren Außen­seitern. Ein solcher ist der deutsche Schrift­steller Gerd-Peter Eigner seit jeher, mit großer Konsequenz, bis ins Alter. Außenseiter aus freiem Entschluß und »durch die Gesellschaft«, wie Antonin Artaud seinerzeit formulierte.

Eigner habe ich in den frühen achtziger Jahren in Salzburg kennengelernt, wir waren viele Stunden in Pariser Cafés und Bars oder auf den Straßen der Stadt zusammen. An einen Besuch in einem Bergdorf hoch über Nizza, wo ich damals die Sommer verbrachte, kann ich mich erinnern, und ebenso an die Gänge und Fahrten (auf dem Vespa-Rücksitz) zu seinem Winzerhäuschen in den Monti Prenestini über Rom. Es hat sich mir oft bestätigt, was auch die Lektüre seiner Bücher verrät: Der Mann besitzt ein angeborenes Talent, Leute zu verstören, Unmut auf sich zu ziehen und sich in unhaltbare Lagen zu bringen. Weiterlesen

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Mehr direkte Demokratie! Ein Plädoyer für den Umbau unserer politischen Systeme.

Eine Verdichtung von Indizien, Zuständen und Befindlichkeiten, im Besonderen, aber nicht ausschließlich, der österreichischen, repräsentativen Demokratie, soll exemplarisch die Notwendigkeit ihres Umbaus aufzeigen und seine Richtung knapp skizzieren. Nicht mehr: Das Warum entscheidend, die konkreten Details können zu einem späteren Zeitpunkt folgen — zuerst muss nach Einigkeit gefragt werden*. Weiterlesen

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Jenseits der Ökonomie

Die Reaktionen schwanken zwischen Unverständnis, Häme und einem weihevollem »Seht-wie-wichtig-das-doch-alles ist«: Die Europäische Union hat den Friedensnobelpreis 2012 bekommen. Am Rande interessant ist dabei, dass das Komitee in den letzten Jahren immer, wenn eine Organisation ausgezeichnet wurde auch eine Person, die untrennbar mit dieser Organisation in Verbindung stand, auszeichnete. Bei den Vereinten Nationen 2001 war das Kofi Annan, bei der Internationalen Atomenergiebehörde 2005 Mohammed al Baradei und 2006 wurde der Preis sowohl Muhammad Yunus als auch der Grameen-Bank zugesprochen. Bei der heutigen Auszeichnung blieb es bei der Institution. Wen hätte man auch als Person, als Identifikationsfigur auszeichnen können? Herrn Barroso? Herrn Van Rompuy? Auf eine fast komische Weise zeigt sich wieder einmal, dass Europa keine Telefonnummer hat, die man anrufen kann, wie dies schon vor langer Zeit Henry Kissinger (übrigens auch ein Friedensnobelpreisträger) beklagte. Weiterlesen

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Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage

In den Vorbemerkungen zu diesem Buch heißt es, dass es der Überredungskünste von Raimund Fellinger und Ulrich Raulff bedurft habe, um die zwölf tagebuchartigen »Hefte« von Peter Sloterdijk, die zwischen dem 8. Mai 2008 und dem 8. Mai 2011 (!) entstanden sind, zu veröffentlichen. Dieses gespreizte Understatement unterstützt Sloterdijk in dem er für einen kurzen Moment sogar von sich in der dritten Person spricht. Schließlich wurde dem Drängen nachgegeben, die Hefte 100 bis 111 wurden transkribiert und sicherlich auch lektoriert (alte Rechtschreibung!). Leider hat man dabei das Inhalts­verzeichnis vergessen, denn dort werden für Heft 105 und Heft 106 falsche Daten genannt; eine Petitesse zwar, aber ärgerlich.

Vorab sei gesagt: »Zeilen und Tage« ist kein Steinbruch, sondern ein weitverzweigtes, zuweilen labyrinthisch anmutendes Stollensystem mit vielen verschiedenen Ein- und Ausgängen und gelegentlichen Sackgassen. Mit der ersten Lektüre dieses Buches sollte der Leser seine eigene Kartographie dieses Konvoluts anfertigen um dann, je nach Zeit und Gelegenheit, die Goldpfannen zielgerichtet kreisen lassen zu können. So manches Körnchen wird bei der zweiten oder dritten Lektüre umso heller aufleuchten.

Da wird doziert, reflektiert, brüskiert, ironisiert, räsoniert, bramarbasiert und, vor allem, philosophiert. Weiterlesen

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Andreas Gursky in Düsseldorf

Es gibt nur ein kleines Heftchen, ein »Kurzführer« bzw. »Miniguide«, mit kurzen Angaben zu ausgesuchten Fotografien und allgemeinen Hinweisen (die man sehr gut nach der ersten Sichtung lesen kann). Ansonsten entfallen bei der gerade eröffneten Andreas Gursky-Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf die üblichen aufdringlichen Erklä­rungsversuche. Im Museumsladen findet man zwei katalogähnliche Bücher (der offizielle Katalog trägt den Titel »Bangkok«) aber keine Postkarten oder andere Devotionalien. Die Vorstellung des Künstlers in der Ausstellung fällt knapp aus; ohne Portraitbild und Hinweise auf die erzielten Preise der Original-Fotografien.

Derart unbeschwert geht oder schlendert der Besucher freien Blickes durch eine Ausstellung, die ihre 60 Exponate weder chronologisch noch motivisch geordnet hat. Nur am Rande ist dabei interessant, dass die Objekte in der Ausstellung ausschließlich »C-Prints oder Pigmentausdrucke« (»Kurzführer«) sind, was das Museumspersonal nicht daran hindert, Zuschauer, die den Objekten zu nahe kommen, auf Distanz zu halten. Es ist dennoch ein wunderbares Herumsuchen und –finden, Zusammenstellen und Nach-Schauen und wenn man nach einer Stunde alles gesehen hat (bzw. glaubt, alles gesehen zu haben – bei Gursky kann man niemals »alles« gesehen haben), dann freut man sich nach einem Kaffee auf eine zweite Expedition in den Kosmos dieses Künstlers. Weiterlesen

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Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter

Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter

Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter

Ein »neues Spiel« irgendwann 1939 oder 1940: Das Suchen, Finden und Sortieren von Granatsplittern. Das Bewundern der bizarren Farben und Formen, das Leuchtende. Und, im Gegensatz zu den geschliffenen Schmuckstücken der Mutter, das Rissige der scharfen Ränder. Der Junge ist sechs oder sieben Jahre alt und diese Granatsplitter erinnern ihn an die Muscheln, die man bei einem Urlaub einst an der Küste sammelte. Er zusammen mit einem Jungen aus einer englischen Familie. Die hatte eine Fahne mit einem sehr schönen Muster aus den Farben blau, rot und weiß, die zwei gekreuzte Kreuze trennten. Die Fahne hatte eine aufregende Wirkung auf ihn ausgeübt. Plötzlich war die englische Familie weg, der Krieg stünde bevor, so erklären die Eltern dem Jungen. Und jetzt werfen die englischen Flieger Bomben ab, aber der Klang des Wortes »England« ist immer noch schön.

Zeitschrift für Ideengeschichte - Heft VI/3 Herbst 2012

Zeitschrift für Ideengeschichte – Heft VI/3 Herbst 2012

So beginnt Karl Heinz Bohrers »Granatsplitter«, eine »Erzählung einer Jugend« wie es im Untertitel heißt. Seine Konstruktion ist gewagt: Der Erzähler wahrt »Distanz«, wie Bohrer dies im Gespräch mit Stephan Schlak (Heft VI /3 Herbst 2012 der »Zeitschrift für Ideengeschichte«) nennt. Die Hauptfigur bleibt namen­los, wird durchgängig als »der Junge« be­zeichnet. Gleichzeitig weiß der Erzähler über die innere Ver­fasstheit des Jungen zu jeder Sekunde genau Bescheid. Am Ende der 315 Seiten erläutert Bohrer sein Ver­fahren in einem Postscriptum: »Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann« und dies »je nach seinen Jahren«. Eine seltsame Formulierung, mit der ausgedrückt werden soll, dass der Erzähler im Rahmen der erzählten Zeit des Jungen verbleiben muss. Vorwegnahmen und ent­sprechende Verknüpfungen in die Zukunft sind unerwünscht. Damit versucht Bohrer die Festlegung des Buches als Autobiographie zu umgehen: »Dies ist nicht Teil einer Auto­biographie, sondern Phantasie einer Jugend.« Fast ermahnend wird der Leser darauf hinge­wiesen, seine »Neugier…auch nicht durch eine biographische Identifizierung der übrigen Charaktere und Schauplätze« zu befriedigen, sondern »ausschließlich durch die Darstellung der Atmosphäre und der Gedanken einer vergangenen Zeit«.

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Frank Brady: Endspiel

Frank Brady: Endspiel

Frank Brady: Endspiel

Es ist fast auf den Tag genau 40 Jahre her, dass der Amerikaner Bobby Fischer in Reykjavik Boris Spasski besiegte und Schachweltmeister wurde. Die schier übermächtige Dominanz der sowjetischen Schach­spieler war gebrochen. Überlagert wurden die letzten Tage des Finales dieses heute noch als denk­würdig geltenden Zweikampfes von den beginnenden Olympischen Spielen in München (und später dem Terroranschlag ebenda). Schon damals war man ungeduldig und interessierte sich mehr für die unüberwindlich scheinenden Probleme zwei Monate vorher, die den Schachwettkampf fast zum Platzen gebracht hätten. Bobby Fischer galt – freundlich formuliert – als exzentrisch, stellte Bedingungen, die bis ins kleinste Detail gingen und drohte ständig, den Wettkampfort zu verlassen. Mehrmals waren die Rückflüge schon gebucht. Die erste Partie hatte er verloren und fühlte sich durch eine Kamera gestört. Zur zweiten Partie trat er nicht an, da seine Forderung, alle Kameras aus dem Spielsaal zu entfernen, nicht umgesetzt wurde. Nun drohten die Sowjets ihrerseits, Spasski werde Reykjavik verlassen sollte Fischer nicht antreten. Fischer kam nicht zur Partie, Spasski gewann diese kampflos und lag nun mit 2:0 in Führung. Der Weltschach­verband FIDE, damals Monopolist, telegraphierte an den Schiedsrichter Lothar Schmid, dass Fischer disqualifiziert werden sollte, wenn er weiterhin nicht zu den Partien erscheinen sollte. Die amerikanische Publizistik flehte Fischer an. Vorher hatte schon Henry Kissinger in einem persönlichen Telefonat an Fischers Patriotismus appelliert. Schließlich hatte Fischer dann durchgesetzt, dass ihm (und Spasski) ein Teil der Ein­trittsgelder ebenfalls zukommen sollten. Damit hätte er selbst bei einem Verlust rund 120.000 Dollar erhalten; eine für damalige Zeiten in Verbindung mit Schach unfassbar hohe Summe. Endlich kam der diplomatisch-kluge Lothar Schmid auf eine rettende Idee, das Match ging weiter, Fischer gewann mit brillanten Spiel – und dieser Wettkampf wird heute in der Tradition von Muhammad Alis »Rumble in the Jungle« als Jahrhundert­event eingeordnet. Weiterlesen

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Figuren der Umwertung: Nietzsche und Genet (III)

Teil I
Teil II


9

1963 schrieb Genet an seinen Verleger Marc Barbezat, Nietzsche habe Die Geburt der Tragödie in einem Zug geschrieben, ohne je in Griechenland gewesen zu sein. »In Korfu«, fuhr er fort, »habe ich alles von ihm gelesen. Was mir gefallen hat, die Ideen, die mir entsprechen: jenseits von Gut und Böse: der Übermensch. Natürlich nicht der von Hitler oder Göring. Lächerlich zu denken, der Besitz von Schlössern und Tausenden Hektar Land ermögliche es einem, wie ein Übermensch zu leben. Nietzsche forderte eine viel härtere Moral für den Übermenschen.« (LB 261) Auch an dieser Stelle bezieht sich Genet aus­drücklich auf eine positive Moral, die er bei Nietzsche zu finden meint (vermutlich hat er besonders die kurzen Skizzen eines neuen Barbarentums im Kopf). Die Porträts der Stilitano, Mignon, Harcamone und Konsorten sind handfeste Gestaltungen des Über­menschen, den sich Nietzsche alles in allem doch etwas eleganter vorstellte, »aus einem Holz geschnitzt, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist.« (EH 267) Jüngers Arbeiter ist eine weitere Ausgestaltung dieses Typus; eine Gestalt, die freilich, vergleicht man sie mit Genets Helden, abstrakt bleibt und sich außerdem als verbindlicher Vorschlag an die Mehrheitsgesellschaft richtet. Handelt es sich bei diesen literarischen und ideologischen Schöpfungen um »Entstellungen« von Nietzsches Gedanken? Nein, sondern um unter­schiedliche Realisierungen eines Modells, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts in der Luft lag und von Nietzsche so elliptisch gezeichnet wurde, daß sehr verschiedene Realisierungen der Leerformen möglich waren. Auch der »Neue Mensch«, wie er Ernesto Guevara aufgrund seiner Guerrilla-Erfahrung vorschwebte, hat noch Teil an dieser Auslegungsgeschichte. Weiterlesen

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