Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

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Marlboro, Prosastücke, 1981 Die Verwirrung des Gemüts, Roman, 1983 Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger, Lamento/Roman, 1986 Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, 1993, 2001 Wolpertinger oder Das Blau, Roman, 1993, 2000 Eine Sizillische Reise, Fantastischer Bericht, 1995, 1997 Der Arndt-Komplex, Novellen, 1997 Thetis. Anderswelt, Fantastischer Roman, 1998, (Erster Band der Anderswelt-Trilogie) In New York, Manhattan Roman, 2000 Buenos Aires. Anderswelt, Kybernetischer Roman, 2001, (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie) Inzest oder Die Entstehung der Welt, Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, 2002 Meere, Letzte Fassung 2007. Bei Volltext. Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen, Poetische Features, 2004 Die Niedertracht der Musik, Dreizehn Erzählungen, 2005 Dem Nahsten Orient / Très Proche Orient, Liebesgedichte, 2007 Meere, Letzte Fassung 2007 Aeolia.Gesang / Stromboli. Mit den Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage, 2008 Kybernetischer Realismus, Heidelberger Vorlesungen. Manutius Heidelberg 2008Der Engel Ordnungen, Gedichte. axel dielmann - verlag 2009Selzers Singen, Phantastische Geschichten. Kulturmaschinen 2010 Azreds Buch, Geschichten und Fiktionen. Kulturmaschinen 2010 Das bleibende Thier, Bamberger Elegien. Elfenbein Verlag 2011 Die Fenster von Sainte Chapelle, Reiseerzählung. Kulturmaschinen 2011 Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks 2011 Schöne Literatur muß grausam sein, Aufsätze und Reden I. Kulturmaschinen 2012

 

Traumtanz: zu Anfang. Das Arbeits-, nämlich Argojournal des Dienstags, dem 23. Oktober 2012.

4.40 Uhr:
[Arbeitswohnung. Dallapiccola, Ulisse.]
Seltsam, wie einfach heute aufzustehen war. Das hing mit einem Traum zusammen, in dem ich durch die Stadt radelte, um in eigenartige Parties hineinzuschauen und aus eigenartigen Parties nach einzwei Tänzen immer wieder fortzugehen, der nächsten eigenartigen Party zu, deren letzte in den leeren Geschäftsräumen einer dieser Malls stattfand, die bei uns ‚Arcaden‘ benamst sind, wiewohl von Bögen weit und breit nicht die Sicht sein kann. Jedenfalls, die anderen, bewirtschafteten Geschäfte waren geschlossen, hatten teils die Rollos heruntergelassen, Blechrollos, teils lag nur Dekorationsschmuck in den Auslagen. Ich schob mein Fahrrad und schloß es neben einer Schaufensterscheibe an, bevor ich mich - auszog. Ja, auszog. Dann, ob nackt oder in Unterwäsche, weiß ich nicht mehr, folgte ich der Musik und mischte mich unter die Tanzenden. Tanzte. Aber nicht lange. Dann geriet ich in ein seriöses Gspräch, worin mir jemand unterschieben wollte, daß ich pädophil sei. Er hatte mich erkannt, vielleicht, weil ich nichts anhatte, vielleicht hatte er auch ein Buch von mir gelesen und auf der hintren Umschlagseite ein Bild von mir gesehen.
Der Vorwurf war absurd, ich war auch gar nicht ärgerlich. Meine, sagte ich, Perversionen lägen woanders, sicher nicht da. Erzählte von dem Zwillingsmädchen, aber, das macht mich im nachhinein stutzig, gab das Alter der Kleinen mit Sieben statt mit Fünf an. Was eine völlig blödsinnige Lüge war, da der Mensch - ich habe im Wachen überhaupt kein Bild mehr von ihm - meine Angabe aufs leichteste überprüfen konnte. Jedenfalls hätte ich, seit das Kind ein Säugling gewesen, bis heute sehr oft bei ihm gelegen, nachts, und nicht auch nur die entfernteste Anwallung verspürt. Was stimmt. Dennoch bleibt diese Lüge, deren Tragweite mir auch im Traum allmählich klarwurde. Jetzt ärgerte ich mich d o c h. Das gibt es tatsächlich, daß ich manchmal, nicht oft, aber doch, rein aus Mutwille etwas Falsches sage und dann, klopft man mich fest, darauf beharre, ja geradezu virtuos für dieses Falsche Wahrheitsbegründungen finde. Das hat auch etwas Sportliches.
Dummerweise wurde unser Gespräch nun sogar vertraulich, und der Mensch traf alle Anstalten, sich wirklich Bücher von mir zu besorgen; also hatte er offenbar doch noch keines gelesen. Er wolle sich später mit mir über seine Lektüre unterhalten, vielleicht in einer, schlug er vor, Korrepondenz. Ich ärgerte mich immer mehr über meine Lüge, aber bekam es nicht hin, sie jetzt noch richtigzustellen: zu sehr hätte ich, meinte ich, dazu ausholen müssen. Weshalb ich das wahrscheinlich hier nachhole. Man kann sich die Idee machen - sie hat etwas Geschlossenes, etwas, psychotischen Welten gleich, Wahres-für-sich -, daß es in unseren Träumen tatsächlich Lebewesen gibt, die ganz neben uns leben, alle Zeit, in deren Häuser wir aber nur, wenn wir schlafen, eintreten können; so sie in die unseren, die dennoch eigene komplette Schicksale haben, von denen wir vielleicht so wenig erfahren, wie sie von den unseren, sondern man trifft sich eben immer nur gelegentlich und teilt sich dann mit.
Mit einer gegenseitig wirklich herzlichen Versicherung unserer beginnenden Freundschaft trennten wir uns, und ich verließ die Party, ging zu meinem Fahrrad und - aus dem Traum und damit aus dem Schlaf hinaus. Sah auf die Uhr: Es war 4.28 Uhr. Noch vor dem Weckerklingeln stand ich auf, fuhr die Computer hoch, ging in die Küche, schaltete die Pavoni ein, kehrte zum Schreibtisch zurück und öffnete die Maske dieses Arbeitsjournal-Eintrages. Dann erst zog ich mich an.
Latte macchiato, Morgenpfeife. Seit gestern nacht, seit nach der straußschen Arabella war mir nach Luigi Dallapiccolas Ulisse, den ich jetzt höre, während ich tippe und über den Traum, gleichzeitig, nachdenke. Gleichzeitig ließ ich die Milch unter der Aufschäumdüse schäumen, rechts das schwere Glas in der Hand, links die elektrische Espressomühle, den Finger auf dem Stromschalter; je verschiedene Bewegungen der Hände, und im Kopf noch mal den Traum. Die Hände tun je was anderes und als das Hirn, das zugleich all diese Vorgänge überwacht: Multitasking, quasi instrumental. Es hilft sehr, wenn sie automatisiert sind, also das Körpergedächtnis mitarbeitet.
Ich frage mich, weshalb ich auch das gleichzeitig dachte: daß Pädophilie nun wirklich nicht meine Neigung ist, ich aber trotzdem log, wie um das zu beweisen; und daß ich wie ein Instrumentalist links und rechts Verschiednes tat und, auf der Metaebene, daß alles dies gleichzeitig geschah; was wiederum das zu bedeuten habe. Ich spürte diese Sehnsucht nach der Musik, wußte aber, daß sie für die nächsten Tage müßte eigentlich ausgeschlossen werden: weil ich jetzt Argo noch einmal, am Stück, ganz lesen und mir die Satzklänge vergegenwärtigen will, die von Musik nicht überlagert werden dürfen, damit ich nicht diese statt jener höre und deshalb etwas für gut befinde, das es womöglich nicht ist. Reinheit der Konzentration. Meine Konzentrationskraft besteht aber nicht im Fokussieren, sondern gerade im Erfassen von Simulatanitäten - so, wie ich auch, mit auf dem Screen oft mehreren geöffneten Fenstern zugleich, simultan am Schreibtisch arbeite und in den Texten jeweils selbst gleichzeitig mit mehreren Ebenen, direkt aus der Erfindung heraus, operiere.
Vielleicht wird dieses Arbeitsjournal heute früh so lang, allein, weil ich den Dallapiccola weiterhören, ihn nicht unterbrechen will, auch nicht für Argo. Allerhand immerhin, daß ich gestern tatsächlich über einhundert Seiten bearbeitet habe, erstaunlich, fast nicht zu fassen. Es war ein Gefühl aus Berauschtsein und Triumph, das mich spätnachmittags ergriff, darin aber auch Spuren der leichten Depression, die ich seit der Buchmesse in mir herumtrage. Eigentlich hätte ich mit mir selbst anstoßen wollen auf den Arbeitserfolg, aber ich trinke ja zur Zeit keinen Alkohol, und es war auch kein Mensch da, mit dem ich‘s hätte tun können. So rief ich schließlich den Profi an und lud ihn zum Essen ein. Da war es Viertel vor sieben. Er sagte sofort zu: „Um acht, halb neun?“ Typischerweise erschien er erst kurz vor zehn, was mir aber die Zeit gab, auch noch die Arbeitsnoten zu bearbeiten, die als Fußnoten im Text stehen, und auch die Kapitelnummern über alle 927 Seiten hinweg auf korrekte Zählung zu kontrollieren.
Wir gingen zu der aparten Vietnamesin, die der Profi, der gestern sehr auf Spott gebügelt war, eine „ältere Dame“ nannte. „Du hast von ihr als einer hübchen jungen Asiatin erzählt, die immer mit dir flirte, und nun seh ich, es ist eine ältere Dame.“ Was mich ärgerlich machte. Ältere Dame - also wirklich! Wenn es hochkommt, ist sie vierzig. Der Profi spielte unsere gemeinsame Erfahrung gegen mich aus, daß wir ‚Westeners‘ das tatsächliche Alter asiatischer Frauen so gut wie nie richtig einschätzen können. In meiner Tokyoter Zeit hatte ich Studentinnen, von denen ich annahm, sie seien noch keine zwanzig; später stellte sich heraus, daß sie quasi alle Doktorantinnen waren und munter auf die Dreißig zugingen oder sie schon überschritten hatten. - Dann ließ er sich von Argo und den nun anstehenden Arbeitsabläufen erzählen: noch einmal ganz durchlesen, dabei hie und dort umformulieren, vor allem aber: sich die Geschehen völlig zu vergegenwärtigen und damit dann in die Lektüre der ersten beiden Bände der Trilogie gehen, auf die hin die letzte Durchwalkung von Argo erfolgt, die zur Lektoratsfassung führen wird. Auf jeden Fall muß noch gestrichen werden; ich weiß nur nicht, wo. Druckte man das Buch in der vorliegenden Form, hätte es 1400 Seiten, vielleicht sogar mehr. Was entschieden zu viel ist, auch für die Gesamtbalance der Trologie als eines Triptychons.
Das Essen indes fand auch der Profi vorzüglich. Ich strich in Gedanken den Körperkonturen der schönen Vietnamesin nach: zärtlich: wie man ein schlankes, glattes Ebenholz durch die Hand gleiten läßt: bewundernd aber, nicht sexuell überwältigend. Nicht, wie Kant meint, interesseloses, sondern triebloses Wohlgefallen. Wobei, begreife ich jetzt, die für viele asiatische Frauen typische Mädchenhaftigkeit es sein wird, was mir in meinem Traum die Unterstellung, ich sei pädophil, eingetragen hat - nur daß eben diese Vietnamesin aus dem Muster insofern herausfällt, als sie eben nicht mädchenhafte, sondern, bei aller Gertenschlanke, ausgeprägt weibliche Formen hat. Darauf wies ich den Profi auch hin. Aber er mochte nicht sehen. Wenn hingegen ich diese Frau betrachte, überkommt mich ein, aber inniges, Staunen.

Gut, ich mach mich mal daran, ans Lesen. Erst freilich noch das DTs für gestern, dann aber die Argo-Lektüre. Ohne Dallapiccola. Mal sehen, wie viele Seiten ich bis zum Abend schaffen werde. Termine habe ich keine. - Allerdings will ich vorher noch einen Brief schreiben. Und muß meiner Redakteurin schreiben, daß ich das verabredete neue Hörstück erst im Dezember werde anfangen können, so daß wir die Sendung aufs nächste Jahr verschieben müssen. Denn es liegt auch noch der >>>> Giacomo Joyce an - nein, >>>> Parallalie, das ist nicht vergessen -, sowie die Neue Fröhliche Wissenschaft, deren Erscheinen >>>> Abendschein und ich nun, zum Erscheinen Argos parallel, auf den Herbst 2013 verschoben haben.

Guten Morgen, insieme.

12.54 Uhr:
Bis TS 104 gelesen, einiges korrigiert. Läuft aber insgesamt wie geölt. Die Personen schmilzen bisweilen nahtlos ineinander, die Perspektiven drehen sich, aber die Szene jeweils selbst ist scharf konturiert. So, wie ich das gewollt habe.
Mittagsschlaf jetzt. Dann wird weitergelesen. Mit etwas Disziplin schaffe ich heute 200 Seiten. Dieses so täglich, und ich werde noch im November damit durch sein und zu den ersten beiden Büchern hinüberlesen können.

Wie ein Wunder zu seinem Namen kam. Argo. Anderswelt. (285). Für Jannis Ritsos.

„Das Alte Europa stirbt“, sagte Maßmann, „es stirbt als Kulturraum, und seine Menschen sterben mit. Wahrscheinlich wird Allegheny aufsteigen oder die Church of latter-days saints oder beide, kann aber sein, daß der Islam die Übermacht stellt. W i r tun’s ganz sicher n i c h t mehr.“
Die Verbindung mit den anderen Kontinenten war nun restlos zusammengebrochen, es starteten keine Flugzeuge mehr, und Schiffe stachen sowieso nicht in See; selbst der Container- und Energietransport mit den Inseln, die Hodna von Zweitmond luden, war eingestellt. In Berlin wuchs der Lichtdom, aus Europa nahm er Gemeinde für Gemeinde hinweg: Er machte, wie verabredet, wieder der Natur und machte Skamanders Monstrositäten Platz zog sich in den Fingernagel der Kybernetik zusammen – für Holomorfe die einzige Möglichkeit zu überleben.
Sie sprachen darüber, und Maßmann riet Kumani: „Sieh zu, daß du rechtzeitig in eine Arkologie kommst, die der Lichtdom erfaßt. Dann hast du noch einige Jahre zu leben.“
Kumani schüttelte den Kopf. „Ich bleibe bei meiner Frau.“
„Dann wirst du sterben.“
„Er hat recht, Kumani“, sagte Deidameia.
„Ich wußte, was mich erwartet.“
„Vielleicht würden“, so Maßmann mit Blick auf Deidameia, „ein paar Widerständler im Lichtdom-selbst ganz gut gebraucht.“ Und zu Kumani: „Es ist d e i n e Welt.“
Deiameia hätte dem Freund den Einsatz befehlen können. Aber sie wußte, er würde sich auflehnen; das wäre ein dummer Kampf gewesen. Außerdem spürte sie Jannis so in sich und fragte zur Überraschung der beiden anderen: „Wie soll der Junge heißen?“
Wieder reagierte Maßmann schnell. „Kennst du Jannis Ritsos?“ Also kam das Wunder zu seinem Namen. Daß später des erwachsenen Jannis’ Züge denen des griechischen Dichters ein wenig glichen, ist aber Zufall.
Noch am Vormittag gab die Wölfin Order und schwor die Ziele der Myrmidonen um. Und weil sie ihr zweites Kind gern im Osten ausgetragen hätte, doch die Pflicht hielt sie hier, dachte sie besorgt an Thisea, die dahingeschickt worden war, ohne daß bislang irgend eine Nachricht zurückgekommen wäre. Und sie dachte an Veshya. Auch die war in den Osten fort, ebenfalls eines Kindes wegen. Der schien ganz verstummt zu sein.
Sie hatte aber keine Zeit für Nervositäten.
Argo, TS 829/830.

Argo 284 <<<<

Die Fenster von Sainte Chapelle.


Kulturmaschinen Berlin
Paperback, 180 Seiten
14,80 Euro
ISBN-10: 3940274348
ISBN-13: 978-3940274342



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Ewigkeit ODER Sich verschwenden. Argo. Anderswelt (284).

„Du weißt, Sohn, wie lang die Ewigkeit ist?“
„Das ist, wenn es nicht aufhört.“
„Wieviele Jahre?“
„Eintausendzwanzigsechshundert Jahre. Einemillionfünfhundert-dreitausend Jahre. Als die Saurier noch lebten. Und nach vorn.“
„Und noch mehr. Stell dir vor, du hast einen Apfel und zehn Minuten, ihn zu essen. Wie viele Bisse nimmst du in diesen zehn Minuten?“
„Viele. Ich krieg den Apfel auf.“
„Dann hast du keinen mehr, nicht wahr?“
„Dann hab ich keinen mehr.“
„Das ist es, was ein Gott befürchtet. Daß er irgendwann nichts mehr hat. Und wie mit dem Apfel, so ist es auch mit Gefühlen, Genüssen, der Liebe, dem Geliebtwerden, unserem Vorrat daran. Wir dürfen, ja wir m ü s s e n verschwenden, wenn wir nur irgend, bevor wir sterben, berührt und erlebt haben wollen, was uns zugemessen ist. Die Götter nicht. Die dürfen nur winzige, noch winzigere Stückchen abbeißen von ihrem Apfel. Diese winzigen Stückchen sind so winzig, daß die Götter fast nichts mehr schmecken. Die Ewigkeit ist ja so lang. Verglichen mit ihr sind selbst hundert Äpfel wenig. Manche nehmen deshalb gar keine Bissen, aus reiner Angst, daß der Apfel irgendwann alle ist und sie dann nichts mehr von ihm haben. So daß er verdirbt. U n s e r e Zähne aber k r a c h e n ins Fruchtfleisch, ganze Brocken reißen wir heraus und kauen sie und schlucken, und wir sind voll von dem Saft. Weil wir das könnnen und dürfen, deshalb beneiden die Götter, die Ewigen, uns, und, sollte es nur EInen geben, beneidet uns Er in seiner erbarmungslosen Einsamkeit. Gegen ihn, mein Junge, sind wir reich: sofern wir verschwenden. Damit wir nicht eines Tages sagen müssen: das habe ich versäumt.“
>>>> Argo 285
Argo 283 <<<<

Soeben erschienen. Schöne Literatur muß grausam sein. Und lieferbar. Kulturmaschinen Oktober 2012.


Alban Nikolai Herbst
Schöne Literatur muß grausam sein.
Aufsätze und Reden I.
Broschiert, 286 Seiten, 16,80 €.
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Der grüntürkise Prophet: ANH im Oktober 2220. Zu uns, auch mir, zurück. Zeitirre. Argo. Anderswelt. (282).


Mit einem Funken fängt es an: >>>> Buchmessen-Quelle mit ANHs Statements & Vita.

>>>> Argo 283
Argo 281 <<<<

Unreadiness. James Joyce: Giacomo Joyce. Die Neuübersetzung (51).


Unreadiness. A bare apartment. Torbid daylight. A long black piano: coffin of music. Poised on its edge a woman‘s hat, red flowered, and umbrella, furled. Her arms: a casque, gules, and blunt spear on a field, sable.

Envoy: Love me, love my umbrella.


>>>> Giacomo Joyce 52
Giacomo Joyce 50 <<<<
Editorial <<<<

Heilige Bücher, sowie davor zum ersten Mal Der Sanfte. Argo. Anderswelt. (281). Nach der Handkorrektur: Argo, Dritte Fassung, S. 478/479.

Deidameia stand von dem Bett auf, die hohen Schuhe abgestreift, barfuß über Teppichbodens Flausch, so ging sie zweimal auf und ab, watend. Blieb kurz stehen. Watete weiter. „Es gibt da einen“, sagte sie, „der wäre vielleicht nicht verdächtig. Kannst du ihn, wenn es sein muß, schützen?“ „Im Osten?“ Mata Hari nickte. Goltz. Das dritte Mal. Die Lippe. „Kaum“, sagte er. Deidameia daraufhin: „Ich will nicht, daß ihm etwas zustößt. Er ist sehr sanft.“ So sanft sprach sie das selbst. „Wir nennen ihn Den Sanften.“ „Im Osten?“ fragte Goltz erneut. „Nein. Er lebt in der großen Brache.“ „Wie kam er aus dem Osten dahin?“ „Ich selbst brachte ihn mit.“ „Wie?“ „Das Heer. Er war Informant, eurer - glaubtet ihr.“ „Ein sanfter Agent?“ „Nie rührt er eine Waffe an. Doch sein Gehirn ist ein Rekorder.“ „Ein Cyborg.“ „Nein.“ „Mutant?“ „Alles an ihm ist Mensch, außer daß er gut ist, sanft ist.“ „Dann verstehe ich das nicht.“ „Niemand verstand. Er hat unter den Schändern gelebt und denen von Kungír.“ „Bei den Devadasi?“ „Wir mußten ihn entführen lassen, als der Ostkrieg ausbrach. Er wäre bei den Rasenden Frauen geblieben. Zu seinen Füßen saßen sie und lauschten, wenn er sang.“ „So etwas gibt es nicht.“ „Orpheus Odysseus“, sagte Deidameia. Goltz aber, irrtiert: „Bitte?“ „Der erste Odysseus konnte das a u c h. Er sang, und die Schakale kamen ihm die Hände lecken.“ „Odysseus?“ „Der Feldherr. Ja. Wir hatten davon Lieder.“ Seufzte sie? Goltz war sich sicher, sie habe kurz geseufzt. Es war ein Klang aus KaliTräumen. Der Osten. Grausam und sentimental. Irdisch, dachte Goltz, unkybernetisch. „Wo ist er ursprünglich her?“ „Das könnte er nur selber sagen. Doch er schweigt. Die Frauen schlugen ihn heraus, wo ihr ihn eingesetzt habt. Umgekommen wäre er schließlich doch. Das interessierte euch nicht. Doch riß er immer aus.“ „Dann habt ihr ihn in den Westen gebracht?“ Deidameia nickte. „Aber er hält kein Dach aus, keine versperrte Tür. Vielleicht mal bloß die Nacht. Danach muß er streunen. Als müßte er sonst sterben. Und alle lieben ihn.“ „Darauf wollen Sie setzen?“ Goltz strich sich seinen kleinen Hohn, weil er eigentlich staunte, von Stirn, Nase und Mund. „Es ist ein Risiko, ich weiß.“ „Gut. - Wer kontaktiert ihn?“ „Nicht ihr. Sondern wir gemeinsam. Wir müssen, Markus, offen zu ihm sein.“ Sie wußte, das war für Goltz das schwerste. Besser, er ärgerte sich, daß sie ihn bei seinem Vornamen nannte. Daran, daß sie ihn duzte, war er mittlerweile wohl gewöhnt. „Aber etwas anderes“, sagte er unvermittelt, wohl deshalb. „Haben Sie auf Hans Deters Einfluß? Haben Sie Zugriff auf seine Identität?“Die Frage kam so überraschend, daß sich die Wölfin räuspern mußte. Sie blieb aber klar. „Ob wir ihn programmieren können?“ Goltz nickte nicht. Ganz regungslos blieb sein Gesicht, doch stieg der saure Duft von ihm. „Nun?“ „Wir manipulieren nicht. Nicht unsere eigenen Leute. Der Charakter ist tabu.“ Als Goltz einfach schwieg: „Er ist in Stuttgart gewesen. Sagt dir die 22 etwas?“ „Was heißt das: er ist in Stuttgart gewesen?“ „Offenbar hat euer Präsident dem Stuttgart schon mal voraus Soldaten geschickt, zweiundzwanzig sollen es sein.“
Cordes goß sich vom Kaffee nach. Für ihn, der diese Szene imaginierte, war es Vormittag. Sein kleiner Junge war bereits in der Schule. Aber weil man, dachte Cordes, mit der Zeit gehen müsse, ließ er Goltz der Wölfin nun auch noch einen USB-Stick hinüberrschieben. Die zwei Disketten nämlich, die seit THETIS im Spiel sind und deren eine die Erbschaft aus dem WOLPERTINGER ist, reichen wirklich nicht mehr hin: innerhalb von knappen zwanzig Jahren können sogar Speichermedien zu nur noch historischen Größen werden. Immerhin gab es die Instrumente noch, sie auszulesen. Doch irgendwann werden die veränderten Produktionsmittel alles Frühere ausschließen. Dann wird es zum Geheimnis werden und jede Diskette ein Heiliges Buch.
>>>> Argo 282 (Aus der Zukunft)
Argo 280 <<<< (um 11.10 Uhr im Link).

WDR3: ANH im Podcast. Über A.L.Kennedys Roman „Das Blaue Buch“. Das Blaue Buch (3).

Wir Künstler, die Lakaien. Aus dem Entwurf der Polemik für den Palmbaum.

Dabei sind wir Künstler schon derart alimentiert, daß man gegenüber den Bundesländern von einem Eltern-Kind-Verhältnis sprechen kann. Hier ist eine, im Sinn von „unheimlich“, ungeheuerliche Regression im Gang, die alle Rede von Autonomer Kunst durchstreicht - ein Begriff, der im 19. Jahrhundert kämpferisch errungen wurde, man kann fast „klassenkämpferisch“ sagen, sofern man denn den Künstler als eine eigene, wenn auch sehr kleine Gesellschaftsklasse begreift: Immerhin war er der Narr, der dem siegreichen Feldherrn auf den Triumphzügen rückwärts vorausläuft, damit er ihn schmähe. Wir indessen schmähen nicht, sondern schmeicheln, schmeicheln wie irgend ein Bittsteller in der Antichambre zum demokratischen Thronsaal. Damit verlieren wir unsere provokante, bzw. polarisierende, in jedem Fall neue Entwicklungen initiierende Funktion ganz ebenso, wie in dem sich totalisierenden Kapitalismus der letzten dreißig Jahre jede keimende Widerstandsbewegung der Künste, soweit sie auch nur ein bißchen populär wurde, binnen keines halben Jahres im Netz des, nennt es Adorno, „universalen Verblendungszusammenhangs“ nicht nur eingeholt, sondern, an Bord dann, sofort kommerzialisiert und ökonomisch profitabel zurechtgeschnitten worden ist. Nicht die Bewegungen profitierten davon, sondern, letztlich, allein die Unternehmen. Jeder Stachel bricht so weg, der ein Wesentliches ist der Kunst.

Von André Bazin. Für den Giacomo Joyce. Die Neuübersetzung (33).


Nebenbei bemerkt: indem Renoir sich vom Buchstaben der Stevensonschen Erzählung löste, gelang ihm wieder einmal eine Verfilmung, die dem Geist des Schriftstellers näher ist als jede andere.

André Bazin: >>>> Jean Renoir (1974).


>>>> Giacomo Joyce 34
Giacomo Joyce 32 <<<<
Editorial <<<<

Böser Kobold des Erinnerns. Argo. Anderswelt. (279). Nach der Handkorrektur: Argo, Dritte Fassung, S. 401/402.

Nie hatte Goltz das Gesicht vergessen, Brems, nicht die schartige Hauterhebung unterm schrägen Tränensack, nicht die von winzigen Fältchen gekerbte Nase, schon gar nicht den Blick. Er hatte damals nicht mitsuchen können, so dringend hatte er aus dem Osten wieder hinausgemußt. Doch hatte auch nicht im Westen - nicht, als er heil in Koblenz zurückwar, und nicht danach - nach dem Mörder fahnden lassen. Weshalb? Es war mit den KaliTräumen noch gar nicht losgegangen. Die kamen erst später. Er hatte den Osten vergessen wollen. Nichts von dem sollte bleiben, nichts, rein gar nichts in ihm. So reinlich war er gewesen, so strukturiert und so klar. Und später, wenn es schon nachts diese Träume gab, die ihm die wenige Zeit zerfieberten, die ihm zum Schlafen blieb, den Mörder einfach vergessen. Vergessen? - Goltz, bittrig, lachte auf. Da stand sein Instinkt auf dem Schreibtisch. Höhnisch begann er, ein Kobold, zu keckern. Doch war das er selbst. Ungefuggers DNS, die Probe – ach, deshalb war es, sein Unbewußtes, wieder darauf gekommen. Es gab keinen anderen Grund.
Goltz wischte den Kobold vom Tisch. Er stand dem Griff zum Telefon im Weg. Doch das Biest wollte sich halten. Erwischte das Glas Pfefferminztee, kreischte auf, weil‘s ihm die Finger verbrühte, als das Glas umfiel. Und sich ergoß: über die Dokumente, Kommunikationselektronik, Stifte, Karten. Alles ging viel zu schnell, als daß Goltz hätte eingreifen können. Was er auch nicht wollte. Denn die dampfende Teeflut riß den Kobold mit sich, der weiterschrie und mit den Ärmchen fuchtelte, bevor er gegart war. Sein Leichnam ging den Wasserfall von der Schreibtischkante ab zu Boden und verpfützte. Dann gab es einen flachen, elektrischen Knall, ob von Goltzens Rechter, die, während er links schon den Hörer hielt, auf die Platte geschlagen hatte, ob im Computer, ob vom gesottenen Kobold.
„Verbinden Sie mich mit Beutlin...“
Er hatte den kurzen Satz kaum begonnen, wieder beherrscht bereits, da löste sich von dem geschmorten Koboldkadaver ein Rauch, der spirrig und ungefähr aufstieg. Goltz registrierte das im Augenwinkel.
„...gesicherte Verbindung, ja.“
Es ballte der Rauch sich im Raum.
„Und ist noch eine Putzkraft im Haus? Schicken Sie sie her.“
Die wolkenartige Ballung wurde Gesicht. Das schwebte dampfen und rötete sich, halb von Achäerblut verschmiert. Um besser sehen zu können, wischte es sich der Söldner mit dem Ärmel seines linken Armes ab. An dessen Wurzel die Hand, die das Messer umschloß. Das zeigte der Dampf aber nicht. Sondern das war reale Erinnerung.. Diesmal, um ihn zu warnen, ja erstarren zu lassen, zeigte ein KaliTraum sein wahres Gesicht: von Lockung war nun gar nichts mehr an ihm. Sondern dies war das Albreißen Kignčrs’, von dem Goltz noch nichts wußte.
Das Gesicht kam näher und lächelte, Goltz ließ den Hörer fallen: Was eine perfekte Holografie, dachte er, von seiner Angst nun restlich ausgekühlt. „Du hast noch etwas von mir“, sagte Brem. Er sprach mit nasaler, was ganz besonders drohte, Nachdrücklichkeit.
Frau Schneider fand den Polizeichef erstarrt in seinem Bürosessel vor, zwar locker wie selten die Beine übereinandergeschlagen, aber ein Eis, das in die Ferne schaut. „Herr Goltz! Herr Goltz!“ So erschreckt, daß auch sie, die holomorfe Reinigungskraft, beinah erstarrte, an der Linken Eimer und Feudel, rechts hielt sie Kehrblech und Handbesen fest. Noch nie hatte sie solch irren Ausdruck in irgendwessen Blick gesehn, auch nicht in einem dieser Horrorfilme, die Jens, ihr Sohn, so schätzte. Ihr genügten in der Tagesschau die Schreckensbilder völlig.
Sie stand so. Er saß so. Lange drei Sekunden. Dann war ihm anzusehen, daß er wieder dachte. Hatte jemand Fremdes Zugang zu seinem Büro?
Es war der Verdacht, was ihn erlöste. Das Phantasma, außerdem, hatte ihm den Instinkt bestätigt. Es gab keinen schwebenden Dampf, gab nur unten die Pfütze, in die es immer noch von oben tropfte. Und in der offenen Tür die entgeisterte Holomorfe, wie wenn sie abgestellt worden wäre.
„Was stehn Sie herum? - Hier!“ Er zeigte vor sich auf den Boden.
Da kam die Verbindung mit Beutlin zustande.
„Moment eben.“ Das in die Sprechmuschel. „Bitte machen Sie schnell.“ Das zu Frau Schneider.
„Mein Gott!“ rief sie. „Die vielen Splitter!“
Fing mit der Schreibtischplatte an, tupfte sie trocken, achtsam bei den Displays, fast ängstlich an den Tastaturen. Bückte sich hinab. Wischte mit dem Lappen in der blauen, reinigungsbehandschuhten Hand. Wrang ihn, sie wollte sich nicht schneiden, gebückt überm Eimer, ging abermals in die Hocke.
„Das genügt. Ich laufe ja nicht barfuß.“ Mit dem Kinn verwies sie Goltz des Raums. Gleich wieder ins Telefon: „’tschuldigung, Beutlin.“ Haarproben hatte er seinerzeit aus dem Osten mitgebracht. „Fünf Tütchen, erinnern Sie sich? Wo sind die verwahrt?“
>>>> Argo 280 (Um 11.10 Uhr im Link).
Argo 278 <<<< (um 13.40 Uhr im Link).

Litflow. An Guido Graf.

Lieber Guido,
hab eben Deine
>>>> FB-Einladung zum Litflow bekommen. Ein bißchen irritiert mich das, wenn ich so die Teilnehmerliste ansehe, schon. Denn seit Jahren, ja über einem Jahrzehnt arbeite ich an dem Thema, habe dazu eine eigene Ästhetik verfaßt, die als Heidelberger Vorlesungen (>>>> "Kybernetischer Realismus", Manutius 2008) auch als Buch erschienen ist, bin ständig in Polemiken zu Netz ./. Buch verstrickt und da auch präsent, seit Jahren zumal in der zunehmend harten und mit absurden Falsch-Argumenten, die allein dem Machterhalt dienen, beladenen Auseinandersetzung zu Urheberrecht und Internet, Norbert Wehr hat >>>> bereits vor zwölf Jahren, als das noch gar nicht allgemein bewußtes Thema war, meinen Grundsatzaufsatz "Das Flirren im Sprachraum" publiziert, und mein ganzes riesiges Anderswelt-Projekt, dessen dritter Band im nächsten Herbst herauskommen wird, umkreist das Thema - und wieder einmal werde ich umgangen, wenn es um eine solche öffentliche Präsenz geht. Weil es bequemer ist, sich im Mainstream zu baden?

We kann man dann noch die Chuzpe besitzen, mich, um den Saal zu füllen, einzuladen?

Echt sauer, absolut sauer:
Alban

The non-existent

and now, ladies & gents, the tart: the sweetest of all, the irrestistable, the immaculate, the flawless, the marvellous, the one-and-only, the block-buster, the street-runner, the deerhunter, the leviathan, the behemoth, the great whore of babylon, bathseba in the bathroom, the sacred snake, the roaring lioness, the drifting albatros, the unspeakable, the inconceivable, the nameless, the indelible delight, the unforgettable, the haunting, the exasperated, the go nuts, the sextasy, the sound of silence, the swaying, the tumbling, the unconscious, the queen of saba, the sphinx, the chapter 29 of herman melvilles "Moby Dick", the lipstick-kiss on the wall of a remote hotelroom wall at 4 am, the darkroom, the doom, the last entity, the final analysis, the ultimate: the non-existent.

Aneinander gebunden (Entwurf).

Wir: zu Tod gebunden
wie in uns selbst die eigene Zelle den Feind hält
daß er sich nähren könne an ihr

der Krebs an der Liebe
jede Begegnung Metastase
jede Berührung letaler Aufstich voraus

uns in das Herz
uns in das Hirn
uns ins Geschlecht

wo wir das Messer noch drehen
bis nur Fleischmasse bleibt
von dem andren

blutig die esoterischen Finger ums Heft
Daß du verrottest
endlich -

Solch Harmonien, die uns betten.